Der Turm / Torony
Christian Reder


DER TURM, also ein Gebäude, dessen Höhe die Abmessungen seiner Grundfläche wesentlich übertrifft, ist immer seltener gewesen als andere Bauformen. Das dürfte, neben Konstruktionsproblemen und Kostengründen, viel mit seiner Symbolkraft zu tun haben. Auch heute darf sich keineswegs jeder einen Turm bauen, wahrscheinlich weil das stets diversen Mächten vorbehalten war. Bezugsfelder dafür: Höher hinaus wollen, höher stehen als andere, Stärke zeigen, Überlegenheit, Verteidigungskraft; sehen und nicht gesehen werden. Was sich nach außen so darstellt, ist im Inneren oft das Gegenteil, ein Ort der Angst, des Rückzugs, der Gefangenschaft, der Meditation. Daß der ursprünglich militärische Zweck - Übersicht, Schutz, Positionsvorteil, Signale, Vorräte - früh sakralisiert worden ist (Kirchturm, Minarett), paßt zu diesem gespaltenen Dasein. Aus Abwehr äußerer und innerer Feinde sollte geistige Anziehung werden, hin zu einem Mittelpunkt. Moderner werdende Kriegstechnik hat den Turm überflüssig gemacht und seine romantische Transformation zu Ruinen, Museen, Aussichtswarten ermöglicht. Elektronik braucht, außer Sendetürmen und Empfangsschirmen, keine auffälligen Militärbauten mehr. Auch Fabriken ist der stolze Schornstein abhanden gekommen. Stattdessen hat sich, begünstigt von neuen Techniken und hohen Grundstückspreisen, der Wolkenkratzer weltweit durchgesetzt, als zivile Demonstration ökonomischer Macht. Die alle Kirchen überragenden Raiffeisen-Silos erinnern sogar in österreichischen Dörfern daran, wie sich die Verhältnisse geändert haben. Unberührt von solchen Entwicklungen sind, auch formal, die Wachtürme geblieben, wie sie in Gefängnissen, Lagern oder an neuralgischen Grenzen weiterhin üblich sind: auf Stelzen stehende geschützte Plattformen, von denen aus verdächtige Bewegungen im umliegenden Gebiet kontrollierbar werden. Daß sie für den Eisernen Vorhang typisch waren, bis sich 1989, beginnend in Ungarn, ihre Funktion erübrigt hat, wird durch die inzwischen auf ehemals westlicher Seite errichteten Gegenstücke relativiert. Diese machen wenigstens einen provisorischen Eindruck, gleichen aber gerade dadurch der Jagd dienenden Hochständen. Die stabileren Türme jenseits der Grenze sollten mithelfen, Menschen zu ihrem Glück zu zwingen, die neuen auf "unserer" Seite sollen sie von ihm fernhalten. Der Fortschritt liegt in der Legalität und darin, daß nicht mehr geschossen wird. Die beiden ungarischen Wachtürme, die Peter Pilz zu einer neuen Konstruktion zusammengebaut hat, sind zu einem zweckfreien Observatorium geworden, das die Symbolhaftigkeit seiner Herkunft ad absurdum führt. Daß gleiches mit einem Mauthausen-Turm nicht möglich wäre, ihm auch nie in den Sinn hätte kommen können, macht durch Offensichtlichkeit klar, daß Totalitärem weiterhin differenziert zu begegnen ist. Es wird die alltägliche Erfahrung an dieser Grenze thematisiert, die von außen bloß als einem selber nicht gefährlich werdende Abweisung begriffen werden konnte. Diese schweigende Aggression wird aufgelöst, ohne daß dafür eine komplementäre Nützlichkeit notwendig wäre. Der neue, nur von seiner unmittelbaren Umgebung aus bemerkbare Turm steht in einem Teich, die oberste Plattform hat die Höhe der umliegenden Hügel. Man sieht nicht weiter als es auch von dort möglich ist. Die transparente Durchsichtigkeit von Gestänge, Stufen und Standflächen läßt keinen Gedanken an Bedrohung aufkommen. Höchstens die Höhe und die Schwingungen des Ganzen erzeugen ein leichtes Unbehagen. Von der Künstlichkeit der Situation wird es wieder egalisiert, ins Erfreuliche gewendet. Im Schachspiel beherrscht der Turm übrigens die gerade Linie, der Läufer ist für schräge Richtungen zuständig. Die Dame vereinigt die Fähigkeiten von beiden.

© Christian Reder 1996/2001


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